Dem Auge fern, dem Herzen ewig nah – ein Spaziergang auf dem Ostenfriedhof
Etwas später als geplant und die Zeitumstellung noch nicht berücksichtigt, ging ich heute auf den Ostenfriedhof. Es gab noch genug Helligkeit, um etwas Vitamin D aufzunehmen, aber die Dämmerung setzte schon sein. Es muss mein erster Besuch an Allerheiligen sein, denn so viele Menschen hab ich noch nie auf dem Ostenfriedhof gesehen. Das hätte ich in Erinnerung behalten. Meine erste Begegnung ist mit einem Franziskanermönch: Leicht gebeugt, graues Resthaar, eine Nickelbrille auf der Nase und sein Umfang nicht unbeachtlich – so geht er in seiner Franziskanerkutte in Richtung seiner Ordensgräber. Er sieht hoch und spricht mich an. Wäre ja nicht viel los hier, meint er. Ich hatte kurz vorher genau das Gegenteil gedacht und teile ihm das mit. Er meinte, bald wäre er ja auch hier. Ob ich mal vorbeikommen würde und ein Gänseblümchen auf sein Grab legen könnte. Ehrlich gesagt, so etwas hat mich noch niemand gefragt, und es ist gut, dass ich ein Mensch bin, der sich über nicht mehr allzu viel wundert. Ich verspreche es ihm. Dann sagte er mir mit, dass er so gerne eine Sitzbank gegenüber der Gräber hätte. Da ich gleich sowieso die Stadt in einer anderen Sache bezüglich des Friedhofes anschreiben will, versprach ich, das Thema einfach mal mit aufzunehmen. Dann wünschte er mir einen schönen Tag und Gottes Segen. Die nächste Begegnung war eine Tanzkollegin, die mich mit Mütze und Brille erst gar nicht wiedererkannte. Wir hielten einen kurzen, aber netten Plausch über die Hektik des Alltags, die ich – glücklicherweise – dank Meditation und regelmäßigem autogenen Training sowie Spaziergängen auf meinem Ostenfriedhof gut im Griff habe. Ich gab ihr ein paar Tipps, wir entdeckten noch, dass ihr Mantel und mein Rock sehr gut zusammenpassen würden (Frauen halt), und dann ging ich in Ruhe weiter. Als Nächstes beobachtete ich einen älteren Mann, wie er zusammen mit einem Mädchen – vermutlich seine Enkelin – auf jedem Grab, das kein Licht hatte, ein Teelicht hinterließ. Das fand ich eine großartige Geste und ich sah ihnen noch ein bisschen nach. Da ich in die Richtung ging, aus der sie kamen, war ich Nutznießerin dieser schönen Aktion. Auf diesem Weg kam mir eine Mutter mit einem kleinen Jungen entgegen und er fragte: „Sag mal Mama, haben wir hier heute Lichterfest?“ Ich musste gleich lachen und sagte ungefragt: „Ja, so etwas Ähnliches.“ Ich kam an den jüdischen Gräbern vorbei und entdeckte vor dem Mahnmal Unmengen von weißen und roten Totenkerzen sowie Teelichter. Eine Gruppe älterer Damen stand vor einem Scancodepfeiler und fragte sich, was das wohl wäre. Die hatten wohl nur auf mich gewartet: Ich zückte mein Handy, las etwas über das Mahnmal vor, das nach dem Krieg für die Opfer des Naziregimes errichtet wurde, und über Otto Elias, die Erläuterungen stelle ich hier mal als Link ein:
Er wurde Opfer des Naziregimes und starb im Dortmunder Gefängnis, vermutlich Steinwache, wo viele Nazigegner hingebracht wurden und verstarben.
So hatte ich auch noch unverhofft Dortmunder Geschichtsunterricht.
Als Nächstes kam ich am Grab von Marie vorbei. Dies ist eins der liebevollsten Gräber auf diesem Friedhof. Man sieht, wie die junge Frau geliebt wurde und wird. Viel zu früh, mit 18 Jahren, starb sie durch einen Autofahrer, der mit 100 Sachen in einer verkehrsberuhigten Zone gefahren ist und sie dabei umbracht hat. Eine Traube von Freunden und Familienmitgliedern stand dort und unterhielten sich.
Im Vorbeigehen warf ich noch einen Blick auf ihr über und über mit Kerzen beleuchtetes Grab. So ein früher Tod wird immer unbegreiflich bleiben.
Auf dem Hauptweg Richtung Ausgang ließ sich eine Inlineskaterin von ihrem Hund ziehen, während sie in ihr Handy starrte. Ein Mann in BVB-Jogginganzug rannte an uns vorbei. Ein Pärchen saß – wie bei einem Stelldichein – auf der Parkbank und küsste sich. Überall funkelten die Lichter und ich dachte nur: Wie schön, dass du rausgegangen bist. Was hättest du nur alles verpasst. Dieser Friedhof ist ein Ort der Lebenden und auch der Toten, die nicht vergessen werden. Stadtgeschichte, Erinnerung und Begegnung zugleich. Ein Friedhof inmitten der Stadt, der mehr ist, als nur Gedenken an die Toten. Er zeigt uns auch immer wieder, der Tod gehört zu unserem Leben. Und jetzt werde ich auf dem Balkon ein Licht anzünden für all die, die ich geliebt habe und die nicht mehr da sind.
Dem Auge fern, dem Herzen ewig nah.